“Solidarität braucht Raum – Der Gentrifizierung in Marburg den Kampf ansagen”
Viel zu hohe und stetig steigende Mieten, Verdrängung von Menschen und Einrichtungen, Leerstand, Kulturräume sind bedroht oder müssen schließen – Gentrifizierung ist in Marburg ein Problem und ein Ende dieser Entwicklung ist lange nicht in Sicht.
So hat eine Mietpreisanalyse im September 2018 des Moses Mendelssohn Instituts ergeben, dass Marburg auf der Wohnungsmarkt-Anspannungsskala der 96 größten und Hochschul-Städte auf Rang 24 liegt und ein WG-Zimmer im Durchschnitt 335 Euro kostet. 2014 lag Marburg noch auf Rang 30 und ein WG-Zimmer lag durchschnittlich bei 307 Euro. [1] Da für diese Durchschnittspreise auch die mit Abstand günstigsten Zimmer in reaktionären Studentenverbindungen dazugezählt wurden, ist der Durchschnitt ohne diese noch höher. Beispielsweise lockt eine Verbindung im Hainweg mit Zimmerpreisen von warm lediglich 150 Euro Studenten an.
Zwar liegt der bundesdeutsche WG-Zimmerpreis durchschnittlich bei 363 Euro, [2] es kann und darf aber nicht das Ziel sein diese Zustände zu erreichen, denn die Mieten sind vor allem für Einkommensschwache schon jetzt viel zu hoch, was allerdings passiert.
Hinzu kommt dass Auszubildende, BerufsanfängerInnen und Studierende in einer Konkurrenz zu einander auch bei Einzimmer-Wohnungen stehen, die wesentlich teurer sind als ein WG-Zimmer. Hierdurch ist für diese Gruppen die Wohnungssuche sehr schwer und wird immer komplizierter. Zusätzlich übersteigen die Mietpreise ihr Budget. Die Ursache hierfür ist die Entwicklung zunehmender Nachfrage, mangelndem Angebot und steigender Preise. Verstärkt wird dies durch zu hohe Grundstücks- und Immobilienpreise. [3]
Aber nicht nur Studierende sind von viel zu hohen Mieten betroffen. Auch Arbeitslose und Berufstätige müssen hohe Mietsteigerungen hinnehmen, zum Beispiel nach sog. Sanierungen und Modernisierungen – man könnte es auch einfach Instandhaltungsmaßnahmen nennen. Dies zwingt sie zu Umzügen, da sie sich die Miete nicht mehr leisten können. Hierbei ist auch ein Problem, dass VermieterInnen Eigenbedarf anmelden um MieterInnen aus ihren Wohnung zu verdrängen. Daraufhin sanieren sie die Wohnungen, um sie um ein Vielfaches teurer weiter zu vermieten. Teilweise lassen sie auch einfach die Räume nach der Sanierung leer stehen, da auf noch höhere Mietpreise spekuliert wird. Dadurch werden noch mehr Wohnungen zu reinen Renditeobjekten. Durch diese Vorgänge werden große Gruppen von Menschen, deren Einkommen nicht ausreicht, aus der Stadt verdrängt. Hiermit geht einher, dass diese Personengruppen kaum noch am sozialen und kulturellen Leben der Stadt teilhaben können. Deshalb hat der Mangel an bezahlbarem Wohnraum eine Verschärfung der Auseinandersetzung um gesellschaftliche Teilhabe zur Folge. Diese Verdrängungsprozesse sind in Marburg zu einem Problem geworden, wie es wenigstens ein kleiner Teil der Kommunalpolitik erkannt hat. [4] Am Beispiel der Kollektikvkneipe „Havanna Achts“ lässt sich die Position der Stadtregierung zur Verdrängung von Menschen und Einrichtungen exemplarisch zeigen: Entweder Gentrifizierung wird geleugnet, wie von der CDU und der Partei “Bürger für Marburg”, aber auch die FDP ist davon überzeugt. Oder man drückt sein Bedauern aus, bleibt aber untätig, wie die SPD. [5]
Ein positives und erfolgreiches Beispiel gegen Mietsteigerungen durch sog. Sanierung und Modernisierung ist der Kampf der MieterInnen der GWH am Richtsberg. Hier sollten Modernisierungskosten auf die MieterInnen umgeschlagen werden. Die MieterInnen haben sich dagegen organisiert und konnten die Bedrohung abwenden. Als Konsequenz hat die GWH jedoch daraufhin den zugesagten Neubau von Sozialwohnungen wieder aufgekündigt und verlauten lassen, keine Sozialwohnungen mehr in Marburg zu bauen. Die Folgen dessen sind noch nicht absehbar. [6]
Bei den rasant steigenden Mieten trifft es – wie immer – die Schwächsten der Gesellschaft am härtesten. Nach Gewobau-Angaben werden nämlich die Quadratmeterpreise in Sozialwohnungsneubauten nicht mehr wie in Sozialwohnungsbestandsbauten bei ca. 5 Euro liegen, sondern bei ca. 7,50 Euro. [7] Bei diesen horrenden Preisen für Einkommensschwache nützt auch keine Quote für den Sozialwohnungsbau, die in Marburg sowieso nicht greift. Erschwerend kommt hinzu, dass immer weniger Wohnungen eine Sozialbindung haben und weitere auszulaufen drohen. [8]
Es wird die Entwicklung deutlich, dass sich die Lage auf dem Wohnungsmarkt immer weiter zuspitzt, vor allem an gefragten Standorten, also der Kernstadt und naheliegenden Stadtteilen. Und obwohl der Wohnungsmarkt so angespannt ist, existieren zur Zeit ca. 100 Zimmer, die als privatvermietete Ferienapartments auf Plattformen wie “AirBnB” angeboten werden. Diese Wohnungen sind dauerhaft dem Markt entzogen und liegen vor allem in der Kernstadt. [9] Höhere Gewinne durch Tourismus sind den EigentümerInnen wichtiger als den Menschen, die in Marburg leben, zentrumsnahen und bezahlbaren Wohnraum zu bieten. Da diese Entwicklung ein immer stärker werdendes Problem darstellt brauchen wir auch in Marburg ein Zweckentfremdungsverbot für Wohnungen, wie es in Berlin schon längst der Fall ist. Durch solch eine Regulierung kann dieser Entwicklung so früh wie möglich Einhalt geboten werden.
Anstatt Leerstand und reaktionäre Räume zu enteigenen und dadurch für alle nutz- und bezahlbar zu machen fand ein Antrag der Rathauskoalition aus SPD, CDU und “Bürger für Marburg” eine Mehrheit, bei der der Magistrat der Stadt die Marktchancen für studentisches Wohnen in sogenannten “Micro-Apartments” und “Tiny-Houses” prüfen soll. Bei diesen Wohnformen leben Menschen vereinzelt auf engstem Raum, wie in einer Sardinenbüchse, auf knapp 20qm. Auf diese wird alles gequetscht, was eine Wohnung haben muss. [10] Im neoliberalen Zeitgeist werden diese Wohnformen als Notwendigkeit und Fortschritt verkauft, obwohl damit eine massive Verringerung von Wohn- und Lebensqualität einhergeht.
ImmobilienmaklerInnen haben in der Oberhessischen Presse verlauten lassen, dass Leerstand in der Kernstadt in “größerem Ausmaß” vorhanden und ein Problem ist – und das schon seit Jahren. Wohnungen, Stockwerke, Häuser und sogar ganze Häuserblocks stehen in Marburg leer, obwohl es genug Bedarf nach Wohnraum gibt. Zum Teil werden ganze Stockwerke als Sperrmülllager genutzt, was bei den derzeitigen Wohnungsmarktverhältnissen blanker Hohn gegenüber den Menschen ist, die auf günstigen und zentrumsnahen Wohnraum angewiesen sind. Denn auf diese Weise wird der Wohnraum künstlich verknappt, wodurch die Preise weiter steigen. WohnungseigentümerInnen gehen sogar so weit, den Leerstand zu kaschieren, indem sie die Fenster der Wohnungen so drapieren, dass sie bewohnt aussehen. [11] Hieran lässt sich erkennen, dass immer mehr Immobilien in Marburg zu Spekulations- und Renditeobjekten verkommen. Wenn selbst ImmobilienmaklerInnen den Leerstand als Problem sehen, stellt sich die Frage, warum die Stadtregierung immer noch nicht einschreitet. Sogar die Einführung eines Leerstandskatasters, bei dem VermieterInnen auf dem freien Wohnungsmarkt leerstehende Wohnungen melden müssen, hat die Stadtregierung abgelehnt, womit Leerstand weiterhin versteckt werden kann. [12]
Eine ähnliche Tatenlosigkeit der Stadtregierung lässt sich auch beim Leerstand von Geschäften in der Oberstadt beobachten. Im Jahr 2017 behauptete Oberbürgermeister Thomas Spieß noch, dass dieser Leerstand kein Problem sei, obwohl sich diese Entwicklung bereits andeutete. [13] Während 2015 ein Geschäft leer stand, [14] waren es Anfang diesen Jahres 18 Geschäfte. [15] Die Leerstandsproblematik lässt sich nicht mehr leugnen, denn selbt große Ketten wie “Dunkin’ Donuts” haben ihre Geschäfte längst aus der Oberstadt abgezogen. Sobald die neue “Marburg Mall” eröffnet ist, ist es möglich, dass sich diese Entwicklung noch weiter zuspitzen wird. Zum einen sind die Mieten für Oberstadtgeschäfte sehr hoch und man bekommt dafür schlechte Räumlichkeiten, zum Beispiel sind einige Geschäfte nur einfachverglast. [16] Zum anderen wird durch die neue Mall Kundschaft aus der Oberstadt abgezogen. Wie GeschäftsinhaberInnen aus der Oberstadt ihre hohen Mieten und Fixkosten (Strom, Heizung, Angestelltengehälter etc.) bezahlen sollen, wenn weniger Menschen in der Oberstadt einkaufen, ist äußerst fraglich. Auch hier sollte lieber Leerstand in der Oberstadt genutzt werden als neue Prestigebauten voranzutreiben. Da sich aber für den Marburger Stadtmarketing-Geschäftsführer Leerstandsmanagment zu negativ und realitätsnah anhört, ist er der Meinung, dass man “Leerstände nicht ‘als strukturelles Problem betrauern’ sollte, sondern als ‘Raum für Möglichkeiten’ vermarkten sollte.” [17] Dementsprechend reagiert die Stadt auf die Leerstandsproblematik folgendermaßen: Es werden Folien auf die leeren Geschäfte geklebt auf denen das Motto “Marburger Freiraum” steht. Auf diese Weise soll Leerstand “positiv besetzt” werden, was er aber nicht ist. [18] Die Stoßrichtung dessen ist eindeutig: Anstatt das Problem zielführend anzugehen, also zu hohen Mieten endlich einen Riegel vorzuschieben und Leerstand zu enteignen, werden nur optische “Verbesserungen” vorgenommen.
Es steht fest, dass es für eine solidarische Stadtgesellschaft Kulturräume braucht. Deren Existenz wird in Marburg jedoch massiv bedroht: Das Café Trauma im G-Werk und das Theater am Turm können ihren Betrieb nicht wie gewohnt fortsetzen, sollte der angrenzende Parkplatz tatsächlich wie geplant an die Pohl-Stiftung zur Errichtung eines privaten und hochpreisigen Seniorenheims verkauft werden. [19] Damit einhergehende Auflagen, beispielsweise abendliche Ruhezeiten, beschränken die Möglichkeiten kulturellen Schaffens. In diesem Fall wäre es unmöglich abends Konzerte zu veranstalten. Schon jetzt ist es nach den Kürzungen im Kulturetat der Stadt für Gruppen nicht mehr möglich, sich regelmäßig unentgeltlich im Trauma zu treffen, wodurch Kultur beschnitten wird. Von diesen Kürzungen waren auch kulturelle Einrichtungen wie das KFZ oder die Waggonhallen betroffen. [20]
Auch der Szene-Club “Till Dawn”, als einer der letzten seiner Art in Marburg, musste erst kürzlich schließen, nachdem das Gelände als Baugebiet rentabel verkauft wurde. [21] Hier wird der Bedarf nach Wohnraum gegen Kulturräume ausgespielt, obwohl beides in einer Stadtgesellschaft wichtig ist. Zusammen mit dem Verkauf der Räumlichkeiten der linken Kollektivkneipe “Havanna Acht” und der Schließung des Oberstadt-Kinos fallen so eine Reihe von Orten weg, die eine lebendige Zivilgesellschaft erst möglich machen: Räume des Austauschs, der Vernetzung und des Zusammenkommens vielfäliger AkteurInnen Marburgs. Diese Räume werden in Marburg systematisch gekappt. Ohne sie ist jedoch “das Einstehen für eine bunte und tolerante Stadt”, von der Oberbürgermeister Thomas Spies bei der Einweihung der Gedenktafel der “Morde von Mächterstedt” am 02.April 2019 sprach, nicht möglich.
Weiterhin ist das Verhalten der Stadt Marburg im Zusammenhang mit dem “Wagenplatz Gleis X” besonders unrühmlich: Im letzten Jahr hat diese nämlich das Grundstück gekündigt, “um einer Verfestigung als dauherhaftem Zustand entgegenzuwirken” und um “über eine nachhaltige Nutzung der Fläche entscheiden zu können”[22]. Neben dem Unwillen alternative Wohnformen in Marburg zu zu lassen, der hier zu Tage tritt, ist dadurch auch ein kultureller und sozialer Raum bedroht. Denn auf dem Wagenplatz finden Konzerte, Sommer- und Frühlingsfeste, ein Open-Air Kino und eine monatliche Kneipe statt, zusätzlich können Gruppen dort Gruppenwochenenden, Projekte und Workshops verwirklichen. [23] Es wird deutlich, dass die Stadt Marburg unter einer “nachhaltigen Nutzung” versteht, dass Grundstücke kapitalistisch verwertbar sein müssen.
Während Räume für emanzipatorische Menschen und Projekte immer weiter aus der Stadt verdrängt werden, formiert sich die Reaktion sowohl auf Burschen- und anderen Verbindungshäusern, als auch in religiös-fundementalistischen und verschwörungsideologischen Räumen. Diese Entwicklung wird von der Stadtregierung aktiv gestützt: Zum einen wird durch ihre Politik die Verdrängung ermöglicht und sie verdrängen selbst sowohl Menschen, als auch kulturelle, politisch und soziale Räume. Zum anderen wird von der Stadt nichts gegen reaktionäre Kräfte getan, einige werden sogar noch unterstützt.
Für Solidarität statt Ausgrenzung in unserer Stadtgesellschaft – und darüber hinaus!
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Belege
[1] Vgl. https://www.op-marburg.de/Marburg/Studenten-kaempfen-um-Apartments
[2] Vgl. Ebd.
[3] Vgl. Ebd.
[4] Vgl. https://www.op-marburg.de/Marburg/Gesetz-gegen-Mieter-Verdraengung
[5] Vgl. https://www.op-marburg.de/Marburg/Keine-Besetzer-in-der-Kollektivkneipe
[6] Vgl. https://www.op-marburg.de/Marburg/Wohnungsbau-GWH-stoppt-den-Sozialwohnungsbau
[7] Vgl. https://www.op-marburg.de/Marburg/Neue-Sozialwohnungen-werden-teurer
[8] Vgl. https://www.op-marburg.de/Marburg/Sozialwohnungsquote-Quote-fuer-Sozialwohnungsbau-greift-nicht
[9] Vgl. https://www.op-marburg.de/Marburg/Gesetz-gegen-Mieter-Verdraengung
[10] Vgl. https://www.op-marburg.de/Marburg/Micro-Apartments-Bald-neue-Wohnformen-in-Marburg
[11] Vgl. https://www.op-marburg.de/Marburg/Wohnungsmarkt-Haus-Eigentuemer-kaschieren-Leerstand-in-Marburg
[12] Vgl. Ebd.